Rennsteig Supermarathon 2018 – Eine offene Rechnung begleichen

Mai 2013
Meine Geschichte zum Rennsteig Ultra fängt vor 5 Jahren an. Kaum zu glauben, dass es schon so lange her ist. Juliane und ich planten einst gemeinsam den Rennsteig Ultra zu laufen. Offiziell heißt der Lauf Rennsteig Supermarathon, aber da es ein Ultralauf ist, bleibe ich beim Wort Ultra. Juliane hatte schon einige Ultras erfolgreich beendet, darunter den 100 km Zugspitzultra. Es sollte für mich der erste Ultralauf überhaupt werden. 72 km traute ich mir damals zu, denn die Strecke war 2013 etwas kürzer, als sie heute mit 73,9 km ist. Wobei der Impuls diesen Lauf auf dieser Distanz zu bestreiten, ging von Juliane aus. Sie überzeugte mich davon, dass wir beide diesen Lauf machen müssten.
Es sollte alles anders kommen. Juliane und ich standen beide auf der Starterliste, jedoch ohne jemals die Startunterlagen abzuholen. Sie war verletzt und ich lag krank im Bett. Ich war so frustriert, dass es noch drei Jahre dauern sollte, bis ich meinen ersten Ultra beim Zugspitzultra – Supertrail im Juni 2016 laufen sollte. Auch wenn ich heute immer erzähle, dass sich knappe 8 Jahre bis zu meinem ersten Ultra gewartet habe, was auch durch diesen Umstand stimmt, so waren meine Ambitionen vorher schon geweckt. Die Idee einen Ultra zu laufen, lebt seit somit schon sehr lange in mir.

April 2017
Ich wollte unbedingt erneut an den Start beim Rennsteig antreten. Es fühlte sich immer so an, als wenn ich eine Rechnung mit dem Lauf offen hätte. Nach meinen ersten Erfahrungen im Ultrabereich im Jahr 2016, fühlte ich mich mehr denn je dazu bereit diesen Lauf endlich zu bestreiten. 2017 sollte nicht das Jahr dafür sein. Dieses Mal war es die Schlafsituation. Ich wollte nicht in der Sporthalle schlafen und mehr Optionen gab es so kurzfristig nicht. Es wirkte alles sehr überstürzt und im Juni stand der nächste Zugspitzultra – Supertrail an. Ich wollte es auch nicht direkt übertreiben. Ich beschloss 2017 nicht anzutreten, sondern es fest für 2018 anzupeilen.
Auf dem Paderborner Osterlauf 2017, welcher Mitte April stattfand, stand ich am Stand des Rennsteiglaufes und unterhielt mich mit einem älteren Ehepaar, das für den Lauf warb. Sie sagten mir, dass es sinnvoll wäre sich jetzt direkt um ein Hotel zu kümmern, wenn ich 2018 laufen wolle. Sie gaben mir einen Flyer für den Rennsteig 2018 mit, damit ich schon einmal den Termin zum Buchen von Hotels hätte. Ich lachte innerlich. 13 Monate im voraus das Hotel sichern? Ich lachte nicht mehr, als ich testweise einige Hotels anrief und immer die Antwort erhielt „Wir sind jetzt schon für das Rennsteig Wochenende 2018 ausgebucht.“ Ich suchte weiter und fand mit etwas Glück ein Hotelzimmer in der Nähe vom Start in Eisenach. Ich reservierte das Zimmer sofort und somit 13 Monate vor dem Start. Als ich auflegte, schüttelte ich den Kopf. Selbst für den New York Marathon 2012 und 2013 brauchte ich keine 13 Monate Vorlaufzeit.
Die weiteren Planungen ruhten bis zum Sommer, wo ich mich endgültig anmeldete. Nun war alles soweit organisiert. Ich durfte nur nicht mehr, wie im Mai 2013, krank werden.

Freitag, 25. Mai 2018
Ich komme am Nachmittag in Eisenach an. Das Hotel ist sehr gut und liegt ca. 450m vom Start entfernt. Ein Traum! Ich hole mir meine Startunterlagen ab und spaziere durch die Stadt und hoch zur Wartburg. Es ist sehr warm, schwül und es graust mir schon vor dem Renntag. Immerhin bin ich gesund und ich spüre den Willen in mir, dass ich endlich diese offene Rechnung mit dem Lauf begleichen möchte. Es ist Zeit den Rennsteig zu laufen. Am frühen Abend gehe ich auf den Marktplatz zur Pasta Party. Es herrscht eine gesellige Stimmung.

Danach gehe ich früh ins Bett, denn mein Wecker wird um 4:30 Uhr klingeln.

Samstag 26. Mai 2018
Vor dem Start
Es ist 4:30 Uhr und mein Wecker klingelt zuverlässig. Ich mache ihn aus und lege ihn zur Seite. In dem Moment höre vom Hotelflur weitere Wecker und muss schmunzeln. Ich bin wohl nicht der einzige Läufer im Hotel. Ich frühstücke, packe meinen Rucksack, den Dropback und gehe gegen 5:25 Uhr aus dem Hotel. Um 6:00 Uhr ist der Start und ich muss mein Dropback für das Ziel abgeben. Im Dropback ist frische Kleidung und etwas Verpflegung, denn ein Bus wird mich wieder hier nach Eisenach zurück bringen. So kann ich mich mindestens umziehen, etwas Essen und muss nicht warten bis ich wieder im Hotel bin.

Start bis 18 Km
Ich stehe am Start meines bisher zweitlängsten Laufes mit 73,9km und ungefähr 1800 Höhenmeter. Ich befinde mich auf dem Marktplatz von Eisenach. Um mich herum sind mehr als 2000 Läufer_innen. So ein großes Starterfeld bei einem Ultra habe ich bisher erlebt. Die Glocken der Kirche erklingen, als es 6:00 Uhr ist. Der Startschuss fällt. Ich sehe ungefähr 30 m vor mir, wie die ersten Läufer_innen loslaufen und ich stehe. Ich gedulde mich sicher eine Minute bis ich loslaufen kann. Es geht zuerst aus der Stadt raus und nach wenigen hundert Metern fängt der erste Berg an, der erst bei Km 25,5 km enden wird. Es ist mal flach zwischen durch und es geht auch mal kurz runter. Jedoch sagt das Streckenprofil sehr eindeutig, dass es im Grunde nur bergauf geht. Knappe 650 m absoluter Höhenunterschied liegen vor mir.

Also dann, auf geht es. Es dauert keine zwei Kilometer bis mich jemand mit einem strahlenden Lächeln anspricht und mir erst einmal ein High Five gibt. Es ist Katja (Asics Frontrunner). Ich begrüße sie ebenfalls freundlich. Ich wusste nicht, dass sie auch hier startet. Das gleiche sagt sie auch zu mir. Wir sprechen kurz. Ich erkläre, dass ich nur wenigen Leuten von heute erzählt habe. Ich hätte mit dem Lauf eine Rechnung offen und die möchte ich heute begleichen. Die Zielzeit sei mir egal. Hauptsache, ich käme gut an. Sie gibt mir einige wertvolle Tipps mit, wie: Übernimm dich bis 25,5 km nicht und im mittleren Teil wird es wenig Schatten geben. Wir reden kurz über dies und das bis ich mich verabschiede. Ich laufe etwas vor, weil ich gerne heute meinen Schritt laufen möchte. Das ist seit dem Lichtenstein Marathon ebenfalls mein festes Ziel. Heute möchte ich einfach mein Ding machen.

Bei Km 3 gibt es die erste schöne Aussicht. Es ist ca. 6:20 Uhr. Die Sonne erstreckt sich knapp über einen Hügel. Wie schön, denke ich mir. Ich laufe weiter. Wald, Wald, Wald und im Grunde geht es immer etwas hoch. Auf den ersten 7 Km sind es gute 200m Höhenunterschied, die stets gut laufbar sind. So mache ich mein Ding. Ich genieße das Laufen, die Natur und habe ich schon das Laufen erwähnt? Hab ich das schon gesagt, welch‘ Freude ich empfinde? Ich fühle mich krafttechnisch absolut super.

Bei Km 9 erklingt ein Ruf: „Hey, kenn ich dich nicht vom Röntgenultra?“ Und ich sehe mich um und erkenne Katharina, mit der ich teilweise den Röntgenultra 2016 gelaufen bin. Sie fand damals ebenfalls Erwähnung in meinem Bericht. Wir unterhalten uns über die letzten zwei Jahre und über das, was wir über Facebook hinsichtlich unserer läuferischen Entwicklungen mitbekommen haben. Wir haben ungefähr in dieser Phase das gleiche Tempo. Bei dem Verpflegungspunkt bei Km 12 wird mir eines bewusst: Lange werden wir nicht gemeinsam laufen.

Sie macht eine enorm kurze Pause und ich eine etwas längere. Ich muss etwas hinter ihr her hechten, um dran zu bleiben. Das wird mir jedoch nur hier gelingen. Wir quatschen weiter und schweigen auch mal einen Km. Das Ganze fühlt sich angenehm und entspannt an. Die Zeit vergeht wie im Flug. Als wir bei Km 18 beim Verpflegungspunkt ankommen, trennen sich unsere Wege. Sie ist unfassbar schnell aus der Verpflegung raus, doch ich beschließe hier zu bleiben und zu Essen und zu trinken. Als ich hier fertig bin, geht es weiter. Ich fühle mich weiterhin sehr locker und entspannt.

Km 18 bis Km 37,5
Nach dem Verpflegungspunkt kommt sofort ein Wurzelweg, natürlich bergauf. Es wirkt rustikal und wild auf mich. Ich mag die Stimmung. Bei Km 20 freue ich mich immer mehr auf den „Gipfel“ bei Km 25,5. Zwischendurch unterhält sich ein Läufer mit mir. Wir reden nur kurz über die Strecke und das es wärmer wird. Dann trennen sich unsere Wege, da ich vorweg laufe. Ich mag diese kurzen und manchmal auch langen Gespräche auf einem Lauf. Ich erlebe sie eher auf Ultraläufen und weniger auf schnellen Straßenläufen. So habe ich schon viele Menschen kennen gelernt und mit einigen entstand auch eine Freundschaft. Doch in der Regel fühlen sich die Gespräche einfach angenehm an, kurzweilig oft. Schließlich steht man vor der gleichen Herausforderung und anders als auf schnellen Läufen, bewegt man sich auf einem Ultra in einem Tempo, wo man sich gut unterhalten kann.
Bei Km 21 ruft ein Mann von der Seite zu jeder Frau, die wievielte sie sei. Ich höre „Da ist die 20. Frau und da ist die 21. Frau.“ Ich gucke neben mich und bin überrascht. Ich scheine recht weit vorne zu sein. Ich hinterfrage mich, ob ich zu schnell das Rennen anging. Im Rückblick kann ich diese Frage klar beantworten: Nein!

Bei Km 24 geht es sehr knackig bergauf. Ich beschließe zu gehen, wie so ziemlich fast alle in dieser Phase. Und irgendwann komme ich oben ab. Wie wundervoll, wie schön. Ich freue mich. Zuschauer jubeln und innerlich juble ich ebenfalls, aber wohl aus anderen Gründen. Endlich bin ich oben. Zuerst genieße ich die Aussicht in die Täler. Was für ein Ausblick. Es folgt die erste Matte für eine Zwischenzeit. Gut ein Drittel des Laufes habe ich damit erfolgreich beendet. Es geht sofort knackig runter. Ich lasse es locker laufen, da ich meine Oberschenkel nicht zerhauen möchte. Nach wenigen hundert Metern wird es flacher und ich ziehe das Tempo an. Ich tauche erneut in den Wald ab. Es läuft einfach. Ich fühle mich fantastisch. Die Beine, die Kraft. Alles ist top.

Ungefähr bei Km 28 / 29 Km wechseln der Untergrund zu einer flachen Straße. Hier laufe ich teilweise eine 5 Minuten Pace und es fühlt sich gut an. Mein Puls ist perfekt im oberen GA1 Bereich (GA=Grundlagenausdauer), bzw. unteren GA2. Heißt ich laufe so entspannt, dass ich ausreichend Sauerstoff aufnehme und lange so laufen könnte.
Ich komme zum Verpflegungspunkt von 33,8 km. Hier esse ich noch einmal kurz etwas und erblicke Apfelschorle. Was gibt es schöneres? Ich nehme mir einen Becher und trinke die Apfelschorle in einem Zug aus. Wie erfrischend, denke ich mir.
Dann laufe ich zügig weiter. Doch nach genau nach diesem Verpflegungspunkt fühle ich mich plötzlich unwohl. Dieses Gefühl steigert sich bis zum nächsten Verpflegungspunkt bei Km 37,5. Dazwischen laufe ich nur Wald-/Forstwege. Das Bild ist im Wald stets das Gleiche. Doch bei der Halbzweit des Laufes merke ich, wie ich Magenprobleme bekomme. Ich könnte kotzen und das meine ich wortwörtlich.

Km 37,5 bis Km 55
Ich zwinge mir Essen und Getränke irgendwie rein. Schließlich liegt noch fast ein Marathon vor mir und ohne Energie, geht nicht viel. Ich gehe den Anstieg direkt nach dem Verpflegungspunkt.

Oben angekommen laufe ich weiter, in der Hoffnung, dass es besser wird. Es kommt jedoch alles anders. Bei Km 40 macht mein Magen mir so Probleme, dass mir keine andere Wahl bleibt als zu gehen. Versuche, immer wieder anzutraben, bringen nichts. Ich gehe. Ungewollt und ich bin ehrlich gesagt niedergeschlagen. War mein Ziel bei diesem Lauf Spaß zu haben, so habe ich ihn garantiert nicht jetzt. Ich denke nach. Vier Stunden habe ich für die 40 km benötigt. Acht Stunden bleiben mir für die restlichen 34 Km. Mir ist sofort klar, dass der Cut-Off keine Rolle spielt. Diese Erkenntnis lässt mich durchatmen. Ich beschließe bis auf weiteres zu gehen und meinem Magen eine Pause zu gönnen. Ich vermute zu diesem Zeitpunkt schon, dass ich etwas nicht vertragen habe. Ich tippe auf die Apfelschorle, bin mir aber nicht sicher.
Es wird ein langer Spaziergang. Ich gehe fast sechs oder sieben km. Es dauert gefühlt eine halbe Ewigkeit, bis ich bei Km 46 / 47 bin. Erst dann trabe ich langsam wieder an. Katja und ihr Begleiter überholen mich und erkundigen sich, ob alles okay sei. Natürlich verneine ich die Frage. Kraft, Beine, Mental ginge es mir sehr gut. Nur der Magen muckt rum. Sie gibt mir den Tipp bis Km 54 zu kommen. Dort gibt es einen größeren Verpflegungspunkt und da könnte ich mich erholen und stärken. Ich male mir Bilder aus, wie ich dort auf einer Wiese neben der Verpflegung entspannt rumliege und es mir gut gehen lasse und danach wieder fit bin. Dieses Bild gefällt mir.
Es geht plötzlich leicht bergab und ich trabe wieder an und erreiche einen Verpflegungspunkt ungefähr bei Km 48,5. Dort ist ein Auto mit offenem Kofferraum. Ich erkundige mich, ob ich mich dort hinsetzen dürfte. Ich darf und so sitze ich. Mitten im Grünen, mit etwas Wasser und versuche mich zu entspannen. Für diese Pause nehme ich mir 2 Minuten, bevor ich beschließe weiterzulaufen. Auf geht es zu dem angekündigten Km 54 Verpflegungspunkt. Es geht direkt wieder leicht bergab. Ich beschließe diesen Abschnitt zu laufen und sehe, dass Katja ungefähr 100 m vor mir ist und der Abstand nicht größer wird. Es kommt sogar dazu, dass wir uns nochmal bei Km 52 begegnen und kurz sprechen. Sie ist verwundert, dass ich wieder da bin. Ich betone, dass es bisher nur bergab ging und von den Kräften und Beinen geht es mir wirklich super. Nach einem kurzen Gespräch läuft sie wieder zügiger an. Wir verabschieden uns und es wird das letzte Mal sein, dass ich sie und ihren Begleiter an diesem Tag sehen werde.

Ich muss kurz nach diesem Treffen wieder gehen und komme etwas später zu dem Verpflegungspunkt bei Km 54. Ich erblicke jedoch nur Asphalt und keine Wiese. Es sieht sehr unbequem aus und alles ist abgesperrt. Der Stand ist direkt an einer Straße, die ich kreuzen muss, sobald ich den Verpflegungspunkt verlasse. Ich beschließe mich hier nur kurz zu verpflegen. Ich nehme mir Essen und Getränke auf die Hand und gehe weiter. Mein im Kopf ausgemaltes Bild verblasst. Das ist nicht der Ort, an dem ich mich irgendwo hinlegen möchte.
Es geht wieder leicht bergauf. Ich esse und trinke während des Anstieges. Den Müll pack ich mir in den Rucksack, um ihn beim nächsten Verpflegungspunkt zu entsorgen.
Kurz nach dem Verpflegungspunkt bei Km 54 passiere ich das Schild Km 55 und ein Schild mit Km 1. Diese neuen Km Anzeiger werden die Schilder vom Halbmarathon sein, denke ich mir. Ich sollte damit Recht behalten.

Km 55 bis ins Ziel (Km 73,9)
Es gibt nicht den Moment, wo ich denke „Noch 19 Km“. Ich habe nie auf Ultras gedacht, dass ich noch XX Km laufen muss. Das genaue Gegenteil ist der Fall. Ich denke ausschließlich darüber nach, was ich schon geschafft habe. Egal bei welcher Distanz, zum Ende hin fühlen sich die Km immer sehr lang an und das Ziel kommt gefühlt einfach nicht näher. Wenn ich auf einem Ultra beginnen würde darüber nachzudenken, was vor mir liegt, würde mich das mental zermürben. Daher beschloss ich einst, nur darüber nachzudenken, was ich geschafft habe. Naja … zumindest ab Wettkämpfen ab dem Halbmarathon.

Ich laufe irgendwo bei Km 56 wieder an. Und die Laufphasen nehmen zu und die Gehphasen ab. Meinem Magen geht es langsam wieder besser, so dass ich meine Energie besser einsetzen kann. Ich überhole sogar wieder vereinzelte Läufer_innen, die mich zuvor eingeholt haben. Die Km sind bestimmt von Forstwegen und Wäldern. Die Strecke ist über 73,9 km abwechslungsreich, aber irgendwo oft auch sehr ähnlich. Es geht hoch und runter und fast immer durch den Wald.

So piept meine Uhr zum 57, 58, 59 km. Immer wieder sehe ich die Km Schilder vom Halbmarathon. Manchmal fehlen auch Schilder. In diesem Moment denke ich mir, da müssen die Halbmarathonläufer eine Schlaufe gelaufen sein. Denn sonst kämen sie nicht auf 21 km. Zumindest nicht, wenn mein 55. Km deren erster Kilometer war. Es laufen alle Starter_innen von allen Distanzen am Ende in das gleiche Ziel. Bei Km 60 fragt mich ein anderer Läufer, ob ich ein Foto von ihm machen könnte. Selbstverständlich sage ich ja, sofern er eines von mir mache. Er erkundigt sich nach dem Cut-Off. Ich schaue auf die Uhr und meine, dass wir noch 5,5 Stunden für 14 Km hätten. Ich lächle ihn an und füge hinzu, dass der Cut-Off für uns absolut keine Rolle spielt. Er atmet stark aus, wirkt sichtlich erleichtert. Er erklärt mir, dass seine Muskeln nicht mehr wollen. Jedoch wenn er soviel Zeit für den Rest der Strecke habe, dann sollte das etwas werden. Wir verabschieden uns, da er gehen möchte, ich jedoch laufen möchte.

Bei Km 64 erreiche ich einen Verpflegungspunkt der gemütlich aussieht. Ich nehme mir etwas zu trinken und setze mich in die Sonne auf eine Bank. Ich schaue mir die Umgebung an und gönne mir zwei, drei Minuten Pause. Ich strecke die Beine etwas aus und strecke mich. Einmal abgesehen von meinem Magen, geht es mir den Umständen wirklich gut. Mein Puls liegt seit Km 37,5 fast immer am unteren GA1 (Grundlagenausdauer 1) Bereich oder sogar im Erholungsbereich. Ich frage mich, ob es vielleicht auch gut ist, so entspannt zu laufen. Denn die Hitze ist mittlerweile unangenehm und so wirkt der Lauf noch anstrengender.

Ich stehe auf, entsorge meinen Müll und laufe weiter. Bei Km 65 kommt mir ein voller Bus mit Halbmarathonläufern entgegen. Die fahren gerade vom Ziel nach Hause. In dem Moment überholt mich ein Läufer und ruft mir zu „Keine 10 Km mehr. Los komm mit!“ Ich lasse mich mitreißen. Der Lauf, so wenig optimal er läuft, ist kurzweilig. Die Km ziehen an mir vorbei. Kaum war ich bei Km 65, bin ich schon bei Km 69 und damit am letzten Verpflegungspunkt vor dem Ziel. Ich nehme mir kurz etwas zu trinken und laufe weiter. Bei Km 70 lasse ich mich fotografieren und unterhalte mich mit einigen Wanderern, die offiziell mit Startnummer die 17 Km Distanz wandern. Nach dem Km 70 Schild gehe ich erst wieder, um erneut meinen Magen zu beruhigen.

Bei Km 72 überholt mich ein bekanntes Gesicht aus Herford. Ich kenne ihn vom Sehen und so ich spreche ihn an. Er habe mich auch erkannt und so unterhalten wir uns kurz. Bei Km 73 fühl ich mich seit langem rundum richtig gut, denn mein Magen ist plötzlich ruhig.

Ich sage zu dem Bekannten aus Herford, dass ich den letzten Km einmal so laufen möchte, wie ich es mir für viele andere Km gewünscht hätte. So laufe ich los. Meine Kraft ist voll da, meinen Beinen geht es immer noch gut. Ich fühle mich wie ein junges Reh. Das stellen auch einige Zuschauer fest und fragen mich, wieso ich so frisch aussehe. Zu einer Gruppe, rufe ich: „Der doofe Magen.“ Ich laufe weiter in einer Pace von unter 5 Minuten. Ich sehe das Ziel und freue mich. Die Straße vor dem Ziel unterteilt auf den letzten 50 m in zwei Wege. Aus meiner Perspektive laufe ich den rechten Weg. Auf dem linken Weg befinden sich die Marathonläufer.

Das Moderatorenteam macht einen tollen Job, kündigt jeden an und verliert sogar immer noch 1-2 Sätze zu jedem. Ich freue mich enorm. Ich trete über die Linie und juble.

Im Ziel und die Rückfahrt
Ich erhalte meine Finishermedaille und lasse noch schnell ein Foto von mir machen.

Ich merke, dass ich emotional werde und suche mir eine ruhige Ecke am Rand des Finisherbereichs und muss mich erst einmal setzen. Eine große Erleichterung fällt von mir ab. Ich habe nicht eine Sekunde daran gedacht aufzugeben. Ich habe nicht einmal gedacht: „Warum mache ich das.“ Die Antwort wäre mir eh sofort klar gewesen.
Dennoch merke ich im Ziel, wie schwer der Lauf dann doch war; nicht muskulär, nicht mental, sondern insbesondere emotional. Ich habe bis zu diesem Zeitpunkt meinen zweitlängsten Lauf erfolgreich beendet. Dieser Umstand wird mir erst in diesem Moment wirklich bewusst. So naiv wie das klingt, darüber hatte ich mir im Vorfeld keine Gedanken gemacht. Für mich war klar: Ich habe eine Rechnung mit diesem Lauf offen und ich werde sie begleichen. Das erschreckt mich, was dazu führt, dass ich noch emotionaler werde und eine Tränke mir aus dem Gesicht streichen muss. Nach fast fünf Minuten Einsamkeit, Ruhe und vieler Gedanken stehe ich auf. Ich gehe zum Verpflegungsstand nehme mir aus Prinzip zwei Becher Apfelschorle und trinke sie in einem Zug aus. Dann mache ich mich auf dem Weg zu meiner Tasche, meiner Urkunde, meinem Finisher-Shirt und abschließend zum Bus. Alles zusammen dauert weit über 30 Minuten.
Ich setze mich in den Bus, der mich zurück zum Start nach Eisenach bringen soll und immer erst dann losfährt, wenn er voll ist. Ich setze mich nach vorne und habe einen geselligen Sitznachbarn. Wir unterhalten uns fast die ganze Zeit, was die Busfahrt sehr kurzweilig macht. Der Bus fährt die Strecke entlang, wo auch ich einen Bus sah. Ich sehe, wie noch sehr viele Läufer_innen bei Km 65 sich entlang hangeln. Mal laufend, oftmals gehend. Ich erinnere mich zurück, als ich hier war und weiß noch sehr genau, was nun vor ihnen liegt: Keine 10 km mehr!
Wir unterhalten uns weiter über alle möglichen Themen. Ich erschrecke mich, als ich bemerke, dass wir fast 1:45h im Bus für die Strecke zurück benötigen. Das alles bin ich vorher gelaufen? Es scheint mir jetzt sehr surreal und unwirklich. In Eisenach hält der Bus an drei Punkten. Beim ersten Punkt, dem Hauptbahnhof, sehe ich, wie Katharina aussteigt. Ich hatte gar nicht mitbekommen, dass sie auch im Bus sitzt. Ich winke ihr zu, sie winkt zurück.
Als ich dann auf dem Marktplatz in Eisenach rausgelassen werde, ist schon alles abgebaut. Nichts mehr erinnert daran, dass vor 11 Stunden hier der Start des Rennsteigsultra war. Ich sehe mich einmal um, nicke leicht und denke: Das war es. Ein weiteres Abenteuer, welches ich erlebt, erfahren habe und nun verarbeiten kann. Ich drehe mich in die Richtung meines Hotels. 450 m liegen vor mir und den ersten Schritt dahin, habe ich genau jetzt getan. Der erste Schritt zur Erholung und dann sicher in Kürze auch zum nächsten Lauf.

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